Viele wollen, aber nur wenige können
«Menschen, die freiwillig arbeiten, sind hoch motiviert»
Anna Fankhauser ist dagegen, das ordentliche Rentenalter zu erhöhen. Sie baut auf Freiwilligkeit und Flexibilität: «Menschen, die freiwillig arbeiten, sind hoch motiviert.» Es sei für Menschen wichtig, sich wertgeschätzt zu fühlen. Der Austritt aus dem Arbeitsleben sei für viele – insbesondere Kadermitarbeitende – schwierig. Ein flexibler, schrittweiser Übergang erleichtere oft den Weg in die Pensionierung.
Gemäss der Neurentnerstatistik von 2018 des Bundesamts für Statistik sagten rund 54 Prozent der Frauen zwischen 64 und 69 Jahren sowie 61 Prozent der Männer zwischen 65 und 71, dass sie aus Freude an der Arbeit weiterhin berufstätig seien. Nur 20 Prozent der befragten Personen arbeiten aus finanziellen Gründen nach der Pensionierung weiter.
Für uns ist es sehr wertvoll, dass Erfahrungswissen an jüngere Mitarbeitende weitergegeben wird. Nur so können wir sicherstellen, dass genügend qualifizierte Fachkräfte nachrücken.
Anna Fankhauser, HR-Verantwortliche bei B+S Ingenieure und Planer
Für Arbeitgeber: Mitarbeitende länger beschäftigen – diese Möglichkeiten haben Sie
Die Vita Sammelstiftungen bietet Ihnen verschiedene Möglichkeiten, falls Sie Mitarbeitende über das ordentliche Rentenalter hinaus beschäftigen wollen:
- Ihre Mitarbeitenden können den Pensionierungszeitpunkt aufschieben. Dann erfolgt der Renteneintritt spätestens bis zum 70. Geburtstag (Frauen und Männer). Bis zu drei Teilschritte sind möglich.
- Alternativ können sich die Mitarbeitenden ab dem Alter 58 teilpensionieren lassen. Das Arbeitspensum kann in maximal drei Teilschritten reduziert werden, wobei jeder Schritt mindestens 20 Prozent betragen und jeweils ein Jahr Abstand bestehen muss. Kantonal kann es dabei Unterschiede geben.
Flexibilität, soziale Kontakte und geistige Stimulation
Michael Keller* (75) und Werner Althaus (77) sind immer noch berufstätig, Hans Ulrich Kaufmann hat bis zu seinem 70. Geburtstag gearbeitet. Während Hans Ulrich Kaufmann auf Stundenbasis in einem 25-Prozent-Pensum angestellt war, ist Michael Keller zu 100 Prozent als Freischaffender für ein Unternehmen tätig. Werner Althaus ist selbstständig erwerbend und arbeitet zurzeit etwa 30 Prozent. Wir haben mit ihnen über Vorteile, Motivation und Anreize zum Weiterarbeiten gesprochen.
Was motiviert Sie, weiterhin zu arbeiten?
Hans Ulrich Kaufmann: Für mich war zentral, dass ich weiterhin soziale Kontakte in der Berufswelt pflegen konnte. Ich habe es geschätzt, mich mit den Team-Mitgliedern auszutauschen und spannende fachliche Fragen zu bearbeiten. Die Teilzeittätigkeit ermöglichte mir einen stufenweisen Rückzug ins Privatleben sowie eine gute Vereinbarkeit von beruflicher Tätigkeit und Familie beziehungsweise Freizeit.
Michael Keller: Wer rastet, der rostet. Mich motiviert es, eine Tätigkeit auszuüben, die mich geistig frisch hält. Meine Arbeit als Metallhändler fasziniert mich nach wie vor, mit all ihren Facetten und dem breiten fachlichen Spektrum. Es ist mir wichtig, dass ich weiterhin viele Kontakte pflegen kann. Noch heute entwickle ich mich durch meine Arbeit laufend weiter und bleibe daher nicht stehen.
Werner Althaus: Als Pensionierter ist es wichtig, eine gute Tagesstruktur zu haben – meine Arbeit unterstützt dies. So bleibe ich gesund und habe meine Erfolgserlebnisse. Der Übergang von einer 100-Prozent-Tätigkeit zum Nichtstun hat bei mir nie stattgefunden. Heute habe ich viel mehr Freiheiten: Ich kann mir meine Mandate selbst aussuchen, eine Tätigkeit ausüben, die anderen einen Mehrwert bietet, und bleibe dabei fachlich auf der Höhe.
Lohnt es sich finanziell, über die Pensionierung hinaus zu arbeiten?
Hans Ulrich Kaufmann: Die Optimierung der finanziellen Situation stand für mich nicht im Zentrum. Mir wäre es auch ohne die Berufstätigkeit übers AHV-Alter hinaus finanziell gut gegangen. Ich musste seinerzeit sogar AHV-Beiträge leisten, ohne dafür etwas zu erhalten. Das ändert sich erfreulicherweise mit der aktuellen AHV-Reform ab dem Jahr 2024: Mit Annahme der Reform AHV 2021 werden dann nach dem ordentlichen Rentenalter geleistete Beiträge bis zur Maximalrente angerechnet. Ich finde es sinnvoll, dass der Staat die Berufstätigkeit nach dem ordentlichen Rentenalter fördert und honoriert.
Michael Keller: Dass ich noch ein paar Franken verdiene, ist sicher ein Vorteil und ermöglicht es mir, meine Hobbys wie Sport und Reisen weiterzuführen. Die Steuerbelastung ist jedoch ziemlich hoch, was mir bewusst war – ich muss ja auch meine Rente versteuern. Unter dem Strich lohnt es sich für mich trotzdem, sonst würde ich nicht mehr arbeiten.
Werner Althaus: Ich gehe davon aus, dass man nicht aus finanziellen Gründen weiterarbeiten muss, sondern es freiwillig tut. Für mich stehen finanzielle Aspekte nicht im Vordergrund. Ich zahle mehr in die AHV ein, als ich in Form der Rente erhalte. Aber ich wollte die AHV auch nicht aufschieben: Wenn ich schon einbezahlt habe, möchte ich die Rente auch beziehen. Steuerliche Überlegungen sind für mich nicht relevant, wenn es darum geht, ob ich weiterarbeite oder nicht.
War es einfach, eine Beschäftigung über das Pensionsalter hinaus zu finden?
Hans Ulrich Kaufmann: Mit 60 habe ich mich frühpensionieren lassen, jedoch ohne die Absicht, ganz mit dem Arbeiten aufzuhören. Ich hatte bereits eine neue Stelle in Aussicht und war dort auch ein gutes Jahr beschäftigt. Dann bekam ich eine Anfrage der Sammelstiftung Vita. Diese brauchte damals auf einem sehr spezifischen Fachgebiet Unterstützung und ich wurde von zwei ehemaligen Arbeitskollegen empfohlen. Ich habe also nicht aktiv gesucht, doch das Angebot passte gut vom Zeitpunkt her, da das andere Projekt fast abgeschlossen war.
Michael Keller: Ich habe noch drei Jahre über das ordentliche Pensionsalter hinaus gearbeitet – bei meinem Arbeitgeber, für den ich während 25 Jahren tätig war. Dank meines grossen Netzwerks, das ich über viele Jahre aufgebaut hatte, bekam ich diverse Angebote, weiterzuarbeiten. Meine Tätigkeit ist aufgrund von Vorfinanzierung sehr kapitalgebunden. Daher wählte ich die Variante, mich als Freischaffender an eine Unternehmung anzubinden, die diese Vorfinanzierung gewährleisten konnte. Geholfen hat mir sicherlich, dass ich mich immer für Technik, Forschung, Neuentwicklungen und Trends in der Industrie interessiert habe. So habe ich mir breite Produkt- und Branchenkenntnisse angeeignet.
Werner Althaus: Ich hatte Glück. 30 Jahre lang war ich in leitenden Positionen bei zwei Banken tätig. Im Alter von 55 Jahren bot sich mir die Möglichkeit, mich mit derselben Tätigkeit – der Finanzierung von Firmen – selbstständig zu machen. Mit 65 war ich in diverse Mandate eingebunden und eine Pensionierung im klassischen Sinn hat nie stattgefunden. In den ersten Jahren habe ich etwa 80 bis 90 Prozent weitergearbeitet, jetzt sind es noch circa 30 Prozent.
Was denken Umfeld und Familie über das Weiterarbeiten?
Hans Ulrich Kaufmann: Meine Familie und mein Bekanntenkreis fanden es positiv, dass ich weiterhin eine herausfordernde Tätigkeit ausgeübt habe. Ich war aber nicht der Einzige in meinem Freundeskreis. Mehrere Kollegen, die ich meist seit der Studienzeit kenne, waren ebenfalls noch über das ordentliche Pensionierungsalter hinaus arbeitstätig. Meist in einem Teilzeitpensum.
Michael Keller: Als ich 68 Jahre alt wurde und mich neu orientierte, sagte meine Frau zu mir, sie bewundere mich, dass ich weiterarbeite. Das war für mich ein grosser Motivationsschub. Auch meine Tochter und mein Sohn stehen hinter mir. Meine Frau und ich machen gerne eine oder zwei Reisen pro Jahr, das ist problemlos möglich – ich habe ja Ferien und kann mir als Freischaffender meine Arbeit flexibel einteilen. Was mein Umfeld anbelangt: Jeder kann denken, was er will. Es steht auch jedem frei, die Tätigkeit auszuüben, die ihm Spass macht.
Werner Althaus: Ich bin in der glücklichen Situation, dass meine Frau eine ähnliche Haltung hat und ebenfalls weiterarbeitet. Sie hatte damals mit den Kindern wenig Zeit, sich beruflich weiterzuentwickeln und holt dies nun nach. So geniessen wir unseren Feierabend zusammen – mit der Freiheit, dass die Kinder aus dem Haus sind. Der Rest der Familie unterstützt uns und freut sich, dass wir noch eine Aufgabe haben.
Wie lange wollen Sie noch arbeiten? Und was halten Sie von einer generellen Erhöhung des ordentlichen Rentenalters?
Hans Ulrich Kaufmann: Ich habe zum 70. Geburtstag aufgehört. Das war für mich der richtige Zeitpunkt. Prinzipiell glaube ich, dass eine generelle Erhöhung des Rentenalters zur Stabilisierung des Vorsorgesystems unumgänglich sein wird. Es sollten aber auch Anreize geschaffen werden, um die berufliche Tätigkeit über das ordentliche Pensionsalter hinaus aktiv zu fördern und flexibel zu gestalten. Der Staat müsste ein Interesse daran haben, das Weiterarbeiten nicht zu bestrafen.
Michael Keller: Das kann ich aktuell nicht sagen. Gewiss muss ich weiterhin Spass an der Arbeit haben und die Gesundheit muss es mir erlauben. Ein Teilzeitpensum war nie ein Thema, da meine Tätigkeit eine 100-prozentige Präsenz verlangt. Eine schrittweise Reduktion ist allenfalls später eine Option. Das Rentenalter sollte man auf jeden Fall erhöhen beziehungsweise fliessend und individuell gestalten und nicht fix bei 65 Jahren festlegen.
Werner Althaus: Ich arbeite solange weiter, wie ich das Gefühl habe, dass ich meinen Kunden einen Mehrwert biete. Ein Grund, weshalb ich mein Pensum reduziert habe, ist die rasante Entwicklung in meinem Fachgebiet. Aktuell arbeite ich ungefähr in einem 30-Prozent-Pensum. Das Rentenalter sollte nicht generell erhöht, sondern flexibler gestaltet werden. Wer körperlich schwer arbeitet und erschöpft ist, soll rechtzeitig in Pension gehen können. Jeder soll selbst entscheiden können, was für ihn stimmt.
Was für Tipps können Sie jemandem geben, der nach der Pensionierung weiterarbeiten möchte?
Hans Ulrich Kaufmann: Sehr wichtig ist es, aktiv ein berufliches Netzwerk zu pflegen und Kontakte am Leben zu halten. Es braucht Mut, etwas Neues anzupacken, und Freude an der Zusammenarbeit mit jungen Menschen. Auch sollte man Interesse an neuen Tools und Prozessen mitbringen sowie die Bereitschaft für Weiterbildungen. Und ganz wichtig: Man sollte offen sein für Veränderungen im persönlichen Arbeitsumfeld. Es braucht eine Bereitschaft, die neue Rolle anzunehmen. Es macht mir Freude, mich auf rein fachliche Fragen konzentrieren zu können, ohne – wie früher – zusätzlich eine grosse und belastende Personalverantwortung wahrnehmen zu müssen.
Michael Keller: Wenn man sich erst im Rentenalter fürs Weiterarbeiten interessiert, dann ist dies viel zu spät. Mein Tipp ist, wissenshungrig zu sein, sich das Leben lang weiterzubilden, zu versuchen, mit Neuentwicklungen Schritt zu halten, und viel zu lesen. Dies alles gibt einem die Möglichkeit, auch nach 65 noch eine interessante Tätigkeit ausüben zu können.
Werner Althaus: Selbstständig Erwerbende haben es leichter, wenn sie weiterarbeiten wollen. Die Gefahr besteht eher darin, dass der Zeitpunkt der Übergabe zu lange hinausgezögert wird. Gerade Geschäftsführer von KMU haben oft Mühe loszulassen. Entscheidet man sich, mit dem Arbeiten aufzuhören, ist es zentral, sich frühzeitig Gedanken zu machen. Wichtig ist, dass man weiterhin eine sinnvolle Tätigkeit ausüben kann und nicht «Opfer der Pensionierung» wird.
*Name geändert