Ist Flexwork ein Luxus, den sich nur Grossunternehmen leisten können?
Fabian Leuthold: Tatsächlich haben Grossbetriebe oft mehr technische Möglichkeiten, um ihren Mitarbeitenden ein örtlich flexibles Arbeiten von daheim oder unterwegs zu ermöglichen. Aber selbstverständlich können auch KMU Flexwork realisieren und die Mehrheit tut das bereits in irgendeiner Weise. Schwerpunktmässig geht es dabei um vielfältige und flexible Arbeitszeitmodelle, von Teilzeit über gleitende Arbeitszeiten und Jahresarbeitskonten bis hin zu flexiblen Modellen in verschiedenen Lebensphasen.
Sandra Zurbuchen: Bei KMU entstehen Flexwork-Lösungen vielfach im Berufsalltag, um gute Kräfte zu halten. Dabei sind es in der Regel individuell vereinbarte Speziallösungen. Andere KMU schreiben sich Flexwork auf die Fahnen, um so gezielt gute Mitarbeitende für sich zu gewinnen. Ich erlebe KMU in Sachen Flexwork als sehr kreativ. Insbesondere im Dienstleistungssektor kommen die Firmen den Bedürfnissen ihrer Mitarbeitenden oft stark entgegen. Aber auch im produzierenden Gewerbe gibt es viel mehr Möglichkeiten, als man denkt. Beispielsweise kenne ich eine Firma im Wallis, die eine verkürzte Tagesschicht mit verlängerter Mittagspause anbietet. Diese richtet sich exakt nach den Schulzeiten. So haben Mitarbeitende die Möglichkeit, Mittagessen zu kochen und nach der Schule die Hausaufgaben zu betreuen.
Modernes Flexwork: Schichtmodell richtet sich nach den Schulzeiten.
Wo liegen die Chancen und Risiken von Flexwork für KMU?
Fabian Leuthold: Richtig angewendet, bietet Flexwork Vorteile für beide Seiten. Die Mitarbeitenden können viel gewinnen, weil sie Beruf und andere Lebensbereiche besser in Einklang bringen können. Das müssen nicht immer Kinder sein, sondern auch Hobbys oder die Pflege betagter Eltern. Mit Flexwork lässt sich eine Ausgeglichenheit im eigenen Lebensmodell finden. Das führt zu mehr Zufriedenheit und kann das Gefühl von Stress verhindern. Doch auch Arbeitgebende profitieren, beispielsweise, weil Flexwork-Mitarbeitende oft eine hohe Bereitschaft haben, für kranke Kollegen und Kolleginnen einzuspringen. Ausserdem lässt sich mit Flexwork die Fluktuation reduzieren und es lassen sich besser Fachkräfte gewinnen.
Sandra Zurbuchen: Damit Flexwork gelingt, braucht es allerdings eine andere Führungskultur mit einem hohen gegenseitigen Vertrauen. Denn eine Flexwork-Kraft lässt sich weniger leicht kontrollieren als Mitarbeitende, die fünf Tage pro Woche von morgens bis abends am gleichen Arbeitsplatz sind. Als Führungskraft muss ich den Mitarbeitenden deshalb viel Verantwortung zusprechen und eine gute Fähigkeit zum Dialog auf Augenhöhe mitbringen, ich werde vermehrt zum Coach. Gleichzeitig benötigen die Mitarbeitenden bei Flexwork ein hohes Mass an Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Dazu gehört auch, Vorgesetzte regelmässig über offene Pendenzen zu informieren. Und beide Seiten sind dafür verantwortlich zu verhindern, dass Flexwork-Mitarbeitende ausbrennen – dann wäre Flexwork kein Win-win mehr, sondern so würden letztlich beide Seiten verlieren. Wenn beispielsweise jemand im 60-Prozent-Pensum einen 100-Prozent-Job erledigen soll: Das kann nicht funktionieren.
Welche Unterschiede beobachten Sie zwischen Mikro- und Mittelunternehmen?
Sandra Zurbuchen: Bei Mikrounternehmen kommt es noch mehr auf die Einzelnen an. Ausfälle von Mitarbeitenden sowie Auftragsschwankungen haben grössere Konsequenzen. Gerade hier kann Flexwork eine Chance sein, um mehr Spielraum zu gewinnen.
In welchen Branchen ist Flexwork besonders stark verbreitet?
Sandra Zurbuchen: Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor haben hier klar die Nase vorn, denn sie können punkto Arbeitsort flexibler sein als produzierende Betriebe und sie haben in der Regel einen höheren Frauenanteil – die ja häufiger in Teilzeit arbeiten. Aber wir kennen auch klassische Industriebetriebe oder Ingenieurbüros mit sehr flexiblen Modellen.
Wie wichtig ist Flexwork heutzutage beim Recruiting?
Fabian Leuthold: Wer Flexwork anbietet, tut sich leichter, qualifizierte Kräfte zu finden – und diese auch auf Dauer zu halten. Die These, dass die junge Generation gar nicht mehr bereit wäre, anders als in Flexwork zu arbeiten, halte ich allerdings für übertrieben: Es gibt nach wie vor viele junge Menschen, die gerne im Vollzeitpensum arbeiten oder auch bereit sind, Überzeit zu machen, wenn es der Karriere nützt. Doch auch sie erwarten im Vergleich zu früheren Generationen eine höhere Flexibilität von den Arbeitgebenden.
Jobsharing ist eine spezielle Form von Flexwork – eine Option auch für KMU?
Sandra Zurbuchen: Erstaunlich viele KMU betreiben eine spezielle Form des Jobsharing, ohne sich dessen bewusst zu sein: In vielen Familienunternehmen teilen sich Paare, Eltern und Kinder oder Geschwister die Führungsfunktion. Beispielsweise fungiert eine Person als CEO und die andere präsidiert den Verwaltungsrat. Oder eine ist vor allem für die Produktion zuständig und die andere für Marketing und HR. Denn Führungsfunktionen in KMU können durchaus ein 150- oder 200-Prozent-Pensum verlangen – da ist es hilfreich, sich über ein sogenanntes «Topsharing» aufzuteilen, also ein Jobsharing für Kaderpersonen. Doch auch auf anderen Hierarchiestufen ist Jobsharing für mich ein Erfolgsmodell. Es bietet doppeltes Know-how, sorgt für Verlässlichkeit und im Idealfall auch dafür, dass die Jobsharing-Partner sich gegenseitig ergänzen und inspirieren. Allerdings muss man eine gewisse Zeit für die Koordination einplanen: So sollte man eine Vollzeitstelle nicht durch zwei 50-Prozent-Stellen ersetzen, sondern lieber durch zwei 60-Prozent-Stellen.
Ist Flexwork auch in Führungsfunktionen möglich?
Fabian Leuthold: An vielen Orten besteht nach wie vor eine Präsenzkultur. Wer dort Karriere machen will, muss die ganze Woche anwesend und ansprechbar sein. Unter solchen Bedingungen sind Flexwork-Modelle in der Führung schwierig, insbesondere Teilzeit. Das hat auch viel mit Geschlechterrollen zu tun: Vor allem Männer haben oft Angst vor Statusverlust, weil sie ihre Identität stark mit einer klassischen Vollzeitkarriere verknüpfen. Das Homeoffice gilt nicht als unmännlich, das reduzierte Arbeitspensum vielleicht doch. Dann stehen Flexwork keine sachlichen Erwägungen im Wege, sondern gesellschaftliche Vorstellungen.
Das Homeoffice gilt nicht als unmännlich, das reduzierte Arbeitspensum vielleicht doch.
Was empfehlen Sie KMU, die Flexwork stärker nutzen möchten, sich aber vielleicht noch nicht so recht an das Thema heranwagen?
Sandra Zurbuchen: Manche Unternehmer haben Vorbehalte, dass es durch Teilzeit zu Verzögerungen kommen kann, weil Arbeitsaufträge länger liegen bleiben. Auch gibt es Sorgen, dass die Personaladministration aufwendiger wird. Unternehmen, die in dieser Hinsicht Bedenken haben, empfehlen wir gerne eine Pilotphase im kleinen Rahmen. Dadurch entsteht der Spielraum, die Versuchsphase auszuwerten und herauszufinden, ob es funktioniert. Ausserdem ist es immer hilfreich, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und von deren Erfahrungen zu profitieren.
Das Gespräch führte Katrin Schnettler Ruetz, Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG.
Die Fachstelle UND in Zürich versteht sich als führendes Kompetenzzentrum in der Schweiz für die Umsetzung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit. Sie berät Unternehmen, Institutionen und Privatpersonen.
Fabian Leuthold
Der Sozialanthropologe Fabian Leuthold ist bei der Fachstelle UND zuständig für die strategische Produkt- und Prozessentwicklung. Aktuell arbeitet er an der Weiterentwicklung des Dienstleistungsangebots der Fachstelle.
Sandra Zurbuchen
Die Organisationsberaterin und Personalfachfrau Sandra Zurbuchen ist Mitglied des Leitungsteams bei UND, sie berät Organisationen sowie deren Mitarbeitende und führt Workshops und Coachings durch.